Fragen der Ärztegenossenschaft Nord zur schleswig-holsteinischen Landtagswahl 2022 an die Parteien der Regierungskoalition und die Herausforderin SPD
Neben den vielerorts erfolgten Analysen zu gesundheitspolitischen Themen in den Wahlprogrammen hat die Ärztegenossenschaft Nord (äg Nord) im Vorfeld zur Landtagswahl mit den parteipolitischen Sprechern der genannten Parteien das persönliche Gespräch gesucht und im Nachgang noch einmal schriftlich gezielt nachgefragt. In Abstimmung mit der Präsidentin Frau Hannelore König sind auch Fragestellungen des Verbands medizinischer Fachberufe e.V. eingeflossen.
Die äg Nord pflegt den Dialog zu den regierungsverantwortlichen Parteien im Lande seit ihrer Gründung. Die Gespräche waren daher geprägt durch eine gewachsene, gegenseitige Wertschätzung. So werden die Leistungen und das Engagement der äg Nord für die regionale Versorgung parteiübergreifend gesehen und anerkannt. Ebenfalls parteiübergreifend ist der Konsens, dass wir vor den Herausforderungen eines immensen Strukturwandels stehen, einzig über den Weg und die Schwerpunkte wird gestritten. Wir haben die Positionen der regierenden Jamaika-Koalition die der Herausforderin SPD gegenübergestellt. Die Parteien haben teils bei einigen Fragen sehr ausführlich geantwortet, hier mag ein gewisser Schwerpunkt zu erkennen sein und daher hier und da eine gewisse „Unwucht“ in der Textlänge herrühren. Es wurden – interessanter Weise – auch Positionen zu Tage gefördert, die so explizit nicht in den Landesparteiprogrammen stehen. Aber sehen Sie selbst!
Wir haben uns vorbehalten, die Antworten auf die jeweiligen Kernthesen zu kürzen. Jedes Mitglied der äg Nord darf selbstverständlich auf Nachfrage den vollen Umfang der Antworten einzusehen.
Wie stehen Sie zur regionalen und insbesondere ambulanten Versorgung durch niedergelassene Ärzt:innen?
Jamaika: Die CDU und FDP erkennen die regionale, ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte als „das Rückgrat der medizinischen Versorgung“ der Bevölkerung in Schleswig-Holstein an. Bündnis 90/Die Grünen sieht sie ebenfalls als zentralen und wichtigen Baustein mit der „Praxis um die Ecke“ als erste Anlaufstelle. Die FDP ergänzt, dass gerade auch Hausärzte und -ärztinnen auf Unterstützung hoffen dürfen.
Herausforderin SPD: Sie nennt die Sicherstellung der wohnortnahen ambulanten sowie stationären, medizinischen Versorgung als das „wichtigste Ziel ihrer Gesundheitspolitik“. Wörtlich: „Die wohnortnahe Versorgung durch Hausärztinnen sowie Fachärztinnen ist wesentlich für die Grundversorgung der Bevölkerung und muss erhalten und gestärkt werden.“ Daneben setzt die SPD auf „regionaldifferenzierte Ansätze und Organisationsformen“ wie multiprofessionelle, medizinische Versorgungs-, Gesundheits- und Notfallzentren oder Ärztegenossenschaften besonders in ambulanter Form, die „den modernen Fortschritt der Medizin nutzen“ und die Sektorengrenzen überwinden können.
Zu unserem Freien Beruf gehört auch zum Wohl des Patienten eine Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Setzen Sie sich dafür ein, dass die neue konsentierte GOÄ endlich nach dreißig Jahren vom Ordnungsgeber erlassen wird?
Jamaika: Die CDU nennt die Überprüfung der GOÄ überfällig, die FDP ergänzt dies mit dem Hinweis auf die Bedeutung der ärztlichen Freiberuflichkeit. So soll die Ärzteschaft „frei von Weisung und Beauftragung Dritter individuell auf die medizinischen Bedürfnisse der Patienten eingehen können“. Bündnis 90/Die Grünen halten die Diskussion zur GOÄ auf Bundesebene für sinnvoll.
Herausforderin SPD: Sie weist auf die „Querelen der Fachärzteverbände“ vor und auf den vergangenen Ärztetagen hin, sieht nun aber die „Ärzteschaft auf der Zielgeraden“ und „unterstützt eine zügige Umsetzung“ der GOÄ.
Wie wollen Sie dem Haus- und Fachärzt:innenmangel sowie Fachkräftemangel in den niedergelassenen Arztpraxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) begegnen und eine Abwanderung in andere Bereiche des Gesundheitswesens stoppen?
Jamaika: Die CDU sieht hier den Bund gefordert und wird sich daher „auf Bundesratsebene weiterhin einsetzen“. Sie verweist darauf, dass der Landtag vor über einem Jahr 1.000 zusätzliche Medizinstudienplätze in Deutschland gefordert hätte. Bündnis 90/Die Grünen wollen die „Anzahl der Ausbildungs- und Studienplätze in den Gesundheits- und Pflegeberufen bedarfsgerecht erhöhen“. Die FDP möchte für attraktive „Angestelltenverhältnisse“ auch in Teilzeit werben und diesbezüglich beim „Aufbau von ergänzenden Angeboten“ unterstützen.
Herausforderin SPD: Sie möchte die Medizinstudienplätze in Deutschland um 5.000 erhöhen, für Schleswig-Holstein hieße dies 100 – 150 mehr. Sie möchte dabei Studienplätze für Bewerber reservieren, die „kein Spitzenabitur“ haben und sich zu einer „zehnjährigen Arbeit als Landärztinnen verpflichten“. Darüber hinaus soll eine Abiturnote unabhängiger Zugang nach österreichischem Vorbild geprüft werden. Die SPD möchte neben einer Personalbemessung in den Versorgungszentren, verlässliche und planbare Arbeitszeiten, flexible und mitarbeiterorientierte Arbeitszeitmodelle sowie ausreichende, gebührenfreie und arbeitsplatznahe Kinderbetreuungsangebote mit dienstzeitkompatiblen Öffnungszeiten anstreben. Darüber möchte sie im Rahmen von Gesundheitskonferenzen mit allen relevanten Akteurinnen im Gesundheitswesen von Schleswig-Holstein ins Gespräch kommen.
Auch Medizinische Fachangestellte (MFA) arbeiten nicht erst seit den 3 Pandemiejahren am Limit und fallen immer häufiger aus und steigen aus dem Beruf aus. Sie sind auch bei den anerkannten Berufserkrankungen betroffen. Welche Unterstützungsangebote und Fördermöglichkeiten sehen Sie auf Landesebene?
Jamaika: Die CDU erkennt – wie alle gefragten Parteien – die herausragende und für die Versorgung der Bevölkerung wichtige Arbeit der MFA an. Bündnis 90/Die Grünen hätten sich gewünscht, dass „gerade auch MFA“ bei der Auszahlung einer „Corona-Prämie“ berücksichtigt worden wären. Sie würde bei geschaffenen Unterstützungsangeboten und Fördermöglichkeiten durch das Land zur Verfügung stehen. Die FDP möchte die Rahmen- und Arbeitsbedingungen für MFA so gestalten, dass „die Arbeit nicht mehr zu Lasten der Gesundheit“ ginge. Dazu gehörten dann eine angemessene Bezahlung, verlässliche und planbare Arbeitszeiten und weniger Dokumentationspflichten. Die FDP sieht dabei die „Digitalisierung als Chance“ gerade auch bei der „Delegation von ärztlichen Leistungen“ im ländlichen Raum, die sie als „Ergänzung und nicht Ersatz“ sehen möchte. So könnten z.B. nicht-ärztliche Praxisassistentinnen oder -assistenten (NäPAs) oder Physician Assistants unterstützende Aufgaben übernehmen. Sie möchte generell die Attraktivität der Gesundheitsfachberufe erhöhen und die Anzahl geförderter Ausbildungsplätze bedarfsgerecht ausbauen.
Herausforderin SPD: Sie möchte gemeinsam mit Ärztegenossenschaften „die Anreize für eine bessere Berufszufriedenheit, Qualifikationen, familiennahe Rahmenangebote und Gesundheitsförderangebote ausloten und weitreichend unterstützen“.
Wie stellen Sie sich die Aufhebung der Sektorengrenzen vor und was bedeutet für Sie ambulant vor stationär?
Jamaika: Für die CDU „schränken Sektorengrenzen zunehmend eine zukunftsorientierte medizinische Versorgung der Bevölkerung ein“, wobei sich hingegen sektorenübergreifende Modellvorhaben in Schleswig-Holstein bewährt hätten. Sie setzt sich daher weiterhin für einen Wegfall der Sektorengrenzen auf Bundesebene ein. Bündnis 90/Die Grünen sehen den Abbau von Sektorengrenzen als dringend und stehen auch für den Grundsatz „ambulant vor stationär“, sehen dabei aber „die Patient*innen und nicht die Strukturen im Zentrum stehen“. Für die FDP sind in der sektorenübergreifenden Versorgung in den letzten Jahren auf Bundesebene bedauerlicherweise dringend notwendige Weichenstellungen ausgeblieben. Sie fordert z.B. den Betrieb von sogenannten Portal- und Anlaufpraxen zu ermöglichen, in denen „rund um die Uhr Notfallpatienten ihren Bedürfnissen entsprechend ambulant oder stationär versorgt“ werden können.
Herausforderin SPD: Sie will den „bewährten Grundsatz ambulant vor stationär“ weiter in den Vordergrund stellen. Durch den oben bereits skizzierten Aus- und Umbau der sektorenübergreifenden Versorgung müssen auch „spezifische Vergütungsstrukturen“ geschaffen werden. So müssten gleiche Leistungen, ambulant oder stationär, auch gleich vergütet werden. Die SPD möchte in Modellregionen „kleineren Kliniken die Perspektive geben“, sich zu regional ausgerichteten Gesundheitszentren zu entwickeln, in denen stationäre Grundversorgung mit ambulanten Angeboten und pflegerischen Angeboten verzahnt werden. Des Weiteren will die SPD eng verknüpft mit den Hausärztinnen das Angebot eines „präventiven Hausbesuchs“ für Seniorinnen ab 75 Jahren in Schleswig-Holstein gemeinsam mit Kommunen und den Pflegekassen einführen. So möchte sie erreichen, dass ältere Menschen länger in ihrer Wohnung leben können, die Teilhabechancen verbessert und der Pflegebedürftigkeit vorgebeugt wird. Die SPD sieht mit Verweis auf andere Länder, dass die Medizin längst viel mehr kann, insbesondere im Bereich Telemedizin, die Robotik und die Künstliche Intelligenz. Erfolgreich könnten diese neuen Möglichkeiten aber nur sein, wenn sie nicht an Sektorengrenzen scheitern würden und Sicherheit im Vordergrund stünde.
Befürworten Sie eine Finanzierung regionaler Modelle zu einer umfassenden, patientenzentrierten, sektor- und fachübergreifenden (Primär)Versorgung in Schleswig-Holstein?
Jamaika: Die CDU werde regionale Versorgungsmodelle unterstützen. Bündnis 90/Die Grünen sind auch sehr dafür, dass solche „Modelle finanziell gefördert“ werden. Die FDP sieht in der Gründung kommunaler „Gesundheitszentren nach dem Büsumer Modell“ die Möglichkeit, die fachübergreifende Vernetzung von Ärzten, Pflege, palliativer Versorgung und Hebammen zu unterstützen.
Herausforderin SPD: Sie habe erste Ansätze einer patientenzentrierten sektor- und fachübergreifenden Primärversorgung bereits in der Vergangenheit unterstützt und möchte „diesen Weg fortsetzen und vertiefen“. Das Ziel: „In jedem Kreis soll es im Jahr 2030 Versorgungszentren geben, die den Menschen ein umfassendes allgemeinmedizinisches Angebot sichern“. Auch häufig konsultierte Fachärzt*innen sollen sich mit den Versorgungszentren in der Fläche ansiedeln können.
Unterstützen Sie die Initiative des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein zum Versorgungssicherungsfonds?
Jamaika: Alle Koalitionäre verweisen auf den Erfolg des Fonds. Bündnis 90/Die Grünen und die FDP möchte diesen in Zukunft fortsetzen, die CDU sogar noch ausgebaut sehen.
Herausforderin SPD: Sie verweist darauf, dass der Versorgungssicherungsfond S-H die Entwicklung neuer innovativer Programme zur Verbesserung oder den Anschub zeitgemäßer Versorgungsprojekte ermöglicht habe. Die Unterstützung der SPD werde sich auf die „Wirkungen und Effekte der entsprechenden Programme“ ausrichten.
Nach dem zurückliegenden und noch anhaltenden Desaster mit der Telematikinfrastruktur (TI) – wie wollen Sie die Ärzteschaft in Praxis und Klinik bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen nachhaltig unterstützen?
Jamaika: Nach Einschätzung der CDU wird die Digitalisierung im zukünftigen Gesundheitswesen eine noch größere Rolle als bisher spielen. Sie sieht bei uns den Telenotarzt und die Telemedizin von besonderer Bedeutung und wird einen weiteren Ausbau daher unterstützen und vorantreiben. Es gäbe aber noch viel zu tun, beispielsweise müssten die Systeme der Rettungsleitstellen untereinander und mit den Rettungswagen bis hin zur Notaufnahme kompatibel miteinander sein. Wichtig sei, dass die Betroffenen mit einbezogen würden und Vergaberecht sowie DSGVO kein Hindernis bei der Digitalisierung darstellten. Bündnis 90/Die Grünen setzten sich für eine bundesweite Strategie zur Digitalisierung im Gesundheitswesen ein. Hierbei müsste der Fokus auf der Lösung von Versorgungsproblemen und der Perspektive der Nutzer*innen in Praxis und Klinik mit nachhaltiger Unterstützung bei der Umsetzung liegen. Die FDP weist darüber hinaus auf das Potential, die gute Zusammenarbeit zwischen Land und Gesundheitsämtern sowie den Gesundheitsämtern untereinander zu verbessern. Sie weist aber auch darauf hin, dass digitale Angebote ergänzend und nicht komplett ersetzend sein können.
Herausforderin SPD: Sie sei sehr an einer „modernen Neuausrichtung der Telematikinfrastruktur“ interessiert und werde die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen. Dazu gehörten Telesprechstunden, Videosprechstunden, Notfallversorgung durch Notfallsanitäter*innen mit ärztlicher Fernunterstützung, elektronische Patientenakten und elektronische Impfnachweise. Hierzu werde die SPD sich intensiv mit dem BMG aber auch den Krankenkassen und Ärzteverbänden in Verbindung setzen.