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Interviewreihe – “Ein Jahr Pandemie in der Praxis”: Dr. Svante Gehring

17.03.2021 | Info

Dr. Svante Gehring

Dr. Svante Gehring
Facharzt für Innere Medizin
Vorstandssprecher der äg Nord

Seit nunmehr einem Jahr hält Corona auch die ambulante Versorgung in Atem. In unserem ersten Vorstandsinterview der Reihe „Ein Jahr Pandemie in der Praxis“ berichtet der hausärztlich tätige Facharzt für Innere Medizin Dr. Svante Gehring von Herausforderungen und Chancen der Pandemie. Dr. Gehring ist in Norderstedt niedergelassen und Vorstandssprecher der äg Nord. Seit 2013 engagiert er sich ebenfalls im Vorstand der Ärztekammer Schleswig-Holstein und ist seit 2015 Stellvertretender Vorsitzender MEDI GENO Deutschland e.V.

Dr. Gehring, in den vergangenen 12 Monaten hat sich viel verändert. Können Sie uns beschreiben was die größten Veränderungen im letzten Jahr, seit Ausbruch der Corona-Pandemie, bei Ihrer Arbeit in der Praxis waren?

Dr. Gehring: Die Terminvergabe wurde grundsätzlich geändert, um potenziell infektiöse von nicht-infektiösen Patient*innen zu trennen. Die Kommunikationswege u.a. durch eine Praxis-App, die wie ein Messenger funktioniert, wurden modernisiert. Seit einem Jahr werden täglich Patient*innen abgestrichen und Corona-Erkrankte im Monitoring auf ihren Gesundheitsstatus hin überprüft. Dadurch sind auch die Wochenenden geschrumpft. Derzeit werden Arbeitsplätze auf geimpfte und nicht-geimpfte MFA ausgerichtet, um das Ansteckungsrisiko von Personal und Patient*innen möglichst gering zu halten. Hygiene-Routinen und Abläufe mussten permanent an das jeweilige Pandemiegeschehen angepasst werden. Heute werden mehr Kontakte über Telefon, Praxis-App oder Videosprechstunde angebahnt, um unnötige Kontakte in der Praxis zu vermeiden. Das Bewusstsein, wie Übertragungen von Infektionskrankheiten (auch in Zukunft) verhindert werden können, ist bei allen im Team deutlich gewachsen, die Praxisabläufe haben sich daraufhin radikal angepasst!

Sie sprechen von einer radikalen Anpassung der Praxisabläufe – Was haben Sie dabei und insgesamt in Bezug auf die Pandemie als die größten Herausforderungen wahrgenommen?

Dr. Gehring: Zu Pandemiebeginn sicher das fehlende Wissen um das Infektionsgeschehen und die nicht ausreichende Schutzausrüstung. Bei einer neu niedergelassenen Kollegin in unserer BAG und damit im Zusammenhang stehender Investition in Personal bei gleichzeitig rückläufigen Patientenzahlen in der ersten Welle, mussten wir eine fehlende Berücksichtigung beim Schutzschirm finanziell verkraften. Der Widerspruch läuft.

Dann musste wir immer zeitnah auf die politischen Beschlüsse, Empfehlungen des RKI und Vorgaben der KV mit immer neuem Vorgehen, anderer Dokumentation und neuen Abrechnungsregeln eingehen. Das war und ist nach wie vor kräftezerrend. Gleichzeitig durften wir ständig die fehlende oder schlechte Öffentlichkeitsarbeit sowie fehlgeleitete öffentliche Diskussionen ausbaden, wenn verunsicherte Patient*innen anriefen und die Welt – wie wir ja auch teilweise – nicht mehr verstanden. Auf die zusätzlichen Kommentierungen und Besserwisserei einiger Standespolitiker hätte ich auch gerne verzichten können.

Wir haben uns als äg Nord hier bewusst zurückgehalten, um weitere Verunsicherungen zu vermeiden. In unserer Praxis mussten wir individuell sehr berührende Schicksale ertragen und uns gleichzeitig mit Corona-Leugnern und Maskenverweigerern herumschlagen. Wir mussten fehlende Test- und Impfkapazitäten ausbaden und das Triagieren nach Prioritätsgruppen unserer Patient*innen aushalten und teilweise auch selbst vornehmen.

Bei einem unterschiedlichen Infektionsgeschehen und dem föderal unterschiedlichen Vorgehen der Landesregierungen war auch die Nähe unserer Praxis zur Hamburger Landesgrenze nicht immer förderlich, da wir Patient*innen aus beiden Bundesländern behandeln. Zudem betreuen wir hunderte Pflegeheimbewohner und mussten Ausbrüche befürchten und unbedingt verhindern. Unsere Praxis liegt zentral und mitten in einem sozialen Brennpunkt, so versorgen wir viele Patient*innen mit niedrigem Einkommen oder Harz-IV, mit Migrationshintergrund oder aus Asylunterkünften.

Viele Patient*innen sind vereinsamt, depressiv oder haben Alkohol- und Drogenprobleme. Da war und ist auch die Kommunikation eine tägliche Herausforderung, um sprachlichen Barrieren, Unverständnis, einer zunehmend aggressiven Grundstimmung und Übergriffen zu entgehen. Ich bin im zurückliegenden Jahr um mindestens 10 Jahre gealtert, aber es geht mir dennoch um ein Vielfaches besser als vielen meiner Patient*innen. Das macht demütig und ich höre deshalb jetzt auf, zu jammern;-)!

Gerade als niedergelassener Arzt haben Sie in den vergangenen Monaten viel Wandel im Praxisalltag erlebt – haben sich aus Ihrer Sicht aufgrund von Veränderungen durch die Corona-Pandemie auch Chancen ergeben?

Dr. Gehring: Natürlich, Praxisabläufe mussten neu gedacht werden, ob Richtung Infektiologie und Hygiene oder Monitoring und Videosprechstunde. Diese Standards sind nun gesetzt und müssen beibehalten werden. Einzig das Abrechnungssystem muss sich dem anpassen, denn es ist auch in Zukunft sinnvoll, Patient*innen – wenn immer möglich – auch außerhalb der Praxis zu führen! Gleichzeitig wurde der größte Teil der berufspolitischen Arbeit dezentral über eMail-Verteiler und Videokonferenzen abgewickelt und oh Wunder, es ging auf einmal! Da könnten wir auch in Zukunft einen Beitrag für unsere Umwelt leisten, wenn wir nicht immer aus allen Himmelsrichtungen anreisen würden!

Dr. Gehring, welche Lehren ziehen Sie aus dem vergangenen Jahr – für Sie persönlich und für Sie als Praxisinhaber?

Dr. Gehring: Persönlich ist für mich noch einmal mehr die Familie in den Vordergrund gerückt und ich bin mehr denn je überzeugt: wir können uns verändern, wir müssen es nur wollen! Ob wir dies als Menschen in einer Konsumgesellschaft, die wirtschaftliches Wachstum als Mantra setzt und das Individuum über alles stellt, wirklich schaffen, da bin ich allerdings weiterhin im Zweifel. Über Umwelt und soziale Gerechtigkeit zu debattieren, fällt uns allen wesentlich leichter, als unser persönliches Handeln weniger am Eigennutz als am Gemeinwohl auszurichten! Ist dies die menschliche Natur und in Stein gemeißelt oder können wir uns ändern und in epigenetischer Weise quasi über uns hinaus weiterentwickeln – vom vernunftbegabten zum vernünftigen Menschen?

Was die Praxis betrifft, bin ich überzeugt, dass wir als Niedergelassene mit unseren Teams einen sehr großen Beitrag geleistet haben und noch leisten werden, um diese Pandemie zu bewältigen. Wir könnten zum „Gamechanger“ werden, wenn wir nun endlich mit dem Impfen in unseren Praxen beginnen könnten. Die Wertschätzung der Politik lässt dahingegen weiter auf sich warten. Unsere MFA haben keinen Bonus erhalten, das Gezerre um den Schutzschirm und die gesundheitspolitischen Parteiprogramme zur Bundestagswahl lassen diese weiterhin vermissen. Dort kommt die ambulante Medizin teilweise noch nicht einmal vor! Das möchte ich nun mit unserer Öffentlichkeitsarbeit und Gesprächen mit Gesundheitspolitikern ändern. Wir haben mehr Wahrnehmung verdient und eine Menge beizutragen, wenn es darum geht, unser Gesundheitswesen für die Zukunft zu rüsten. Und sollte es in Zukunft um Veränderungen und Bereitstellung von Ressourcen gehen, möchte ich auch nie wieder von einem Politiker hören, das ginge nicht oder es würden sich keine Mehrheiten für Veränderungen finden!

Einer Ihrer Wünsche für die Zukunft ist deutlich zu spüren – mehr Wahrnehmung und Wertschätzung für die ambulante Versorgung. Was wünschen Sie sich noch für die nahe und ferne Zukunft?

Dr. Gehring: Es wäre schön, wenn wir durch die Pandemie nachdenklicher geworden wären und nun als Gesellschaft ins Gespräch kämen. In was für eine Gesellschaft wollen wir leben? Was bedeutet uns Freiheit, wo endet sie und wo beginnt die des Gegenübers? Corona-Leugner, Masken- und Impfverweigerer stellen, meines Erachtens, grundlegende Werte unseres Zusammenlebens in Frage. Ist der kategorische Imperativ in Vergessenheit geraten oder geht es uns nur noch um unsere persönliche Freiheitsmaximierung? Freiheit lässt sich für mich nur in der Verantwortung für den Mitmenschen, unsere Gesellschaft und Umwelt denken und leben. Daher verstehe ich diese Verweigerung dem Mitmenschen gegenüber nicht, gerade wenn diese dann noch aus den eigenen Reihen kommt. Ich möchte auch, dass wir ehrlicher miteinander umgehen, Missstände benennen dürfen und nicht alles der „Political Correctness“ und „Gender-Gerechtigkeit“ opfern. Warum hat sich denn die STIKO und der Ethikrat nicht getraut, Männer in den einzelnen Gruppen zu priorisieren, obwohl die Übersterblichkeit gegenüber Frauen evident ist? Feige nenne ich das! Einer solchen Diskussion müssen wir uns stellen, sonst entlassen wir den Bürger in eine zunehmende Unmündigkeit. Für die Zukunft wünsche ich mir auch eine neue Justierung zwischen Bund und Länder, der Föderalismus in Kommunikation und Handeln war pures Gift, dass heißt nicht, das einheitliche Gesetze und Regeln eine sinnvolle Reaktion auf lokale Begebenheiten unmöglich machen soll!

Wie wollen wir nun aber ein faires und belastbares Gesundheitssystem gestalten, das dem Solidargedanken weiter standhält? Wollen wir noch mehr Krankenhausbetten, noch kürzere Liegezeiten, noch weniger und schlecht bezahltes (Pflege)Personal und noch mehr Operationen, auch wenn der Nutzen hier und da im Zweifel steht? Wollen wir immer bessere Geschäftsmodelle, um höhere Renditen zu verwirklichen? Wollen wir Gewinne entsolidarisiert und aus dem Gesundheitssystem entnehmen? Oder wollen wir lieber in den Wettbewerb um die beste Patientenversorgung einsteigen? Wollen mehr ambulante Leistungen ermöglichen, Vorortbetreuung mit faireren Arbeitsbedingungen für die Pflege und MFA, mehr menschen- und weniger technikzentrierte Medizin zulassen? Wollen wir mehr Team- und Zusammenarbeit über die Professionen und Sektoren hinweg? Neue Versorgungsformen wagen, die mehr auf Verantwortung setzen und weniger auf einen bürokratischen Overkill, der im Verwaltungs- und Überwachungsakt fachlich personelle und zeitliche Ressourcen vernichtet? Spätestens das Impfstoffdebakel sollte auch jedem gezeigt haben, dass eine faire Verteilung – in diesem Fall von Impfstoffen – nicht unter rein marktwirtschaftlichen Kriterien gelingt. Da gewinnt nur, wer am schnellsten das Höchste bietet oder es mit dem Datenschutz nicht so genau nimmt! Wir brauchen auch wieder dringend mehr Produktionsstätten für Arzneimittel und Impfstoffe in Europa, um zukünftigen Engpässen aus dem Wege zu gehen!

Wie wollen wir darüber hinaus als Gesellschaft in Zukunft leben? Lebensglück und -zufriedenheit statt Bruttosozialprodukt? Weiter um jeden Preis auf wirtschaftliches Wachstum setzen oder auf Nachhaltigkeit, allein um unsere Lebensgrundlage an Umwelt und Klima zu sichern? Das Raumschiff Erde hat sehr begrenzte Ressourcen und kommt mehr und mehr vom Kurs ab. Uns bleiben nur wenige Kilometer über unseren Köpfen zum Atmen, danach kommt die Todeszone. Uns bleibt nur wenig Zeit für eine Kurskorrektur, denn auf dem heutigen Stand der Technik wird uns der Weltraum keine Rückzugsmöglichkeiten bieten können. Weiter als Gesellschaft auf die individuelle Nutzenmaximierung zu setzen, kann doch nicht mehr das Ziel sein. Wir müssen unser Überleben als Erdenweltbürger auf diesem Planeten in den Blick bekommen. Ich bin daher auch weiterhin für einen harten Wettbewerb, um die nachhaltigste Technologie und die sozialsten Arbeitsbedingungen. Die Politik muss hier endlich die Weichen stellen, dazu muss man nicht einmal subventionieren oder die alte Denke mit dem Wirtschaftswachstum ablegen. Sie muss Luxus und Konsum steuerlich mehr belasten und nachhaltige Dienstleistungen und Technologien steuerliche mehr entlasten. Das kann doch nicht so schwer sein? Wenn wir heute die Zeichen der Zeit erkennen, in allen Bereichen der Gesellschaft auf Bildung, Forschung und Innovation setzen, die unser Gemeinwohl und Zukunft im Visier behält, sind wir morgen die Spitzenreiter, international wettbewerbs- und konkurrenzfähig und dann klappt es am Ende auch wieder mit dem Wachstum;-).

Vielen Dank für Ihre Statements und das Interview. Was möchten Sie abschließend Ihren ärztlichen Kollegen sagen?

Haltet durch, ich bin stolz auf Euch und was wir zusammen geleistet haben! Uns müssten daher rosige Zeiten bevorstehen. Die Politik erkennt auf einmal, dass frisches Geld von Großinvestoren nur Abhängigkeiten schafft und unser Solidarsystem korrumpiert. Die ambulante Medizin wird mit ihren freiberuflichen Mittelständlern als Garant für ein funktionierendes Gesundheitswesen zum Nutzen des Patient*innen- und Gemeinwohls wiederentdeckt. Unsere engagierte Selbstständigkeit, unser Verzicht auf die Sicherheiten der Anstellung, von tariflich gesicherten Arbeitszeiten und bezahltem Urlaub über Endgeldfortzahlungen bei Krankheit und Kuraufenthalten, unsere Investitionen in Personal, veraltete TI-Technik und Ausstattung unserer Praxen macht sich am Ende doch bezahlt und wir bekommen unsere Altersversicherung durch eine lukrative Weitergabe an einen ebenso enthusiastischen Nachfolger, wie wir es einmal waren, dreifach ausgezahlt! Wie war das nochmal, Humor ist, wenn man trotzdem lacht:-)!

Das nächste Interview erscheint am 24.03.2021.

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